Kostenlose Kurzgeschichte

»NICHT EINE TRÄNE«




Joshua Benning fuhr die asphaltierte Straße hinauf. Der eher schmale Weg war begrenzt von Sträuchern und er fragte sich, wohin er den Kleinwagen lenken sollte, wenn ihm ein anderes Fahrzeug entgegenkam. 
Wo war bloß dieses Apartment? Hier auf dem Hügel war nichts!
Nein, das stimmt nicht, dachte er.
Hier irgendwo musste diese Hotelanlage sein, in der Susanne so gern übernachtet hätte. Joshua hatte sich geweigert, in solch einem Koloss seinen Irlandurlaub zu verbringen. Die Arbutus Lodge war ein Kompromiss. Jetzt war dies alles hier eher seine Zuflucht – denn Susanne war fort.
Joshua war sich bewusst darüber, dass es besser für ihn war. Diese Frau hatte an seinen Nerven gezehrt, ihn nicht verstanden, ihn verbiegen wollen … dennoch hatte er sie geliebt.
Er hoffte, dass sie mit diesem Lars glücklich wurde. Bei dem Gedanken kochte unerwartet Wut in ihm hoch. Glücklich?! Er trat auf die Bremse und schlug auf das Lenkrad.
„Dieser Scheißkerl!“
Susanne hatte ihn drei Monate lang mit Lars betrogen! Und er verschloss noch immer die Augen davor. Joshua raufte sich das halblange Haar. Vereinzelte Strähnen fielen dunkel vor sein Gesicht.
Das Navigationsgerät meldete sich und schlug vor zu wenden.
„Wenden? Du blödes Ding hast mich doch hier hochgeführt!“, zischte er.
Nun, hier konnte er so oder so nicht umkehren. Die Straße war viel zu eng. Also fuhr Joshua erneut an und schlängelte sich den Weg weiter hinauf. Der Nieselregen hörte auf, als er auf eine freie Ebene fuhr. Die Wolkendecke brach auf und vereinzelte Sonnenstrahlen beleuchteten die Wiese rechts von ihm. Links sah er die Apartmentanlage, die er gesucht hatte. Doch in diesem Augenblick erschien ihm das nebensächlich, denn der Ausblick war atemberaubend!
Joshua parkte das Auto an der Seite, stieg aus und betrat die Grasfläche. Weiter vorne stand eine einzelne Bank. Er lief langsam darauf zu. Sein Blick schweifte währenddessen über die Grafschaft Kerry. 
Nebelumwölkte Berge beherrschten die Weite. Das bewaldete Tal darunter wurde von einer Seenplatte durchbrochen, die kleine Touristenstadt Killarney schmiegte sich an die Hügel. Der Himmel war wie aus Blei gegossen und schwebte bedrohlich darüber. Trotzdem suchte sich das Licht des Nachmittags seinen Weg und wanderte über die Landschaft.
Als der Regen erneut einsetzte, kümmerte es ihn nicht. Feine Tröpfchen benetzten sein Gesicht und ihm war, als würde das Wetter ihn begrüßen – auf feuchte, aber sanfte Weise.
Joshua lief noch ein Stück weiter, bis zu einem Holzzaun und umklammerte die morschen Bohlen. Die Luft um ihn war würzig und … er konnte es kaum beschreiben … weich? Ja, das war es. Sie schmiegte sich an ihn, als würde sie ihn umhüllen wollen. 
Abrupt wurde der Regen heftiger und verwandelte sich in einen Schauer. Joshua schnaubte, setzte sich die Kapuze seiner Wachsjacke auf und lief zügig zum Auto zurück.
Wenig später parkte der Wagen ordentlich auf dem kleinen Parkplatz der Anlage und Joshua nahm den Wohnungsschlüssel des Vermieters entgegen. Es war ungewohnt, nach so langer Zeit wieder Englisch zu sprechen, trotzdem kam er gut zurecht, was ihn selbst ein wenig überraschte.
Die Wohnung war behaglich und mit dunklen Möbeln ausgestattet. Die Küchenzeile wirkte winzig und der Herd wurde noch mit Gas betrieben, dafür war das Ehebett geräumig und erschien ihm … romantisch.
Seufzend ließ er sich in die strahlend weißen Laken fallen. Ihm lag ein Fluch auf den Lippen, den er jedoch unterdrückte. Ärger und Schimpfwörter nutzten ihm nichts. Susanne war nicht hier – und das war gut so. Sein Verstand begriff das – sein Herz nicht. Die Empfindung fühlte sich an, als würde der Mittelpunkt seines Daseins von einer Faust umklammert werden. 
Joshua packte seine Sachen aus und blickte aus dem Fenster. Nicht weit entfernt sah er die Reste eines Rundturms und eine Kirchenruine. Beide waren in seinem Reiseführer erwähnt und Joshua wunderte sich, dass er so nah an diesen Sehenswürdigkeiten wohnte. Obwohl er wusste, dass das große Hotel nicht weit von ihm sein musste, sah er nichts davon. Draußen war es menschenleer. Nur zwei Ponys grasten auf der Weide, die hinter dem Zaun begann.
Es dämmerte langsam und der Regen hatte endlich aufgehört. Ein scharfer Wind vertrieb die Wolken und pfiff um die Häuser. Von hier konnte er Killarneys Gewässer nicht sehen, die Ruinen dagegen gut überblicken. Nebel stieg auf und hüllte den Aghadoe Hill in geheimnisvolle Schleier.
Sollte er vielleicht …
Ja, er würde noch einmal hinausgehen! In den Nebel, zu den Ruinen. Vielleicht begegnete er ja ein paar Sídhe. Joshua lächelte traurig. Susanne mochte die irischen Elfenmärchen.
Ausgerüstet mit wasserdichten Schuhen und einer gefütterten Regenjacke trotzte er dem Wetter und lief zu den Überresten des Rundturms. Das letzte Leuchten des Abends brach sich auf den uralten Steinen. Von dem Turm waren nur noch die Grundmauern geblieben. Seine Wände mochten vielleicht drei oder vier Meter hoch sein. Der Rest schien wie abgebrochen. Das Gemäuer trug etwas Geheimnisvolles in sich, das Joshua nicht benennen konnte. Er fühlte sich wie in einem Film. Diese Kulisse war großartig!
Bedächtig schritt er über die Wiese zu der alten Kirche, an der ein Friedhof grenzte. Er öffnete das Metallgatter, das leise knarrte, als er es wieder zuschob. Die alten Mauern waren recht gut erhalten. Vorne ragten sie noch bis zum Giebel auf, an den Seiten nagte die Zeit stärker. 
Joshua schritt durch einen Rundbogen und verharrte. Er verspürte ein seltsames Prickeln über seine Haut ziehen. Es fühlte sich an, als würden winzige Füßchen über seinen Körper laufen. Schwindel erfasste ihn kurz. 
Schon seit frühster Kindheit besaß Joshua eine Gabe. Er konnte die Dimensionen durchdringen und das sehen, was anderen verwehrt blieb. Als er eine Frau vor sich auf einem Grabstein sitzen sah, erschreckte es ihn nicht. Er wunderte sich. Susanne hatte diese Gabe in ihm gedämpft, abgeblockt. Sie konnte nicht akzeptieren, was er war, was er fühlte, was er sah. Joshua hatte darum gerungen, diese Fähigkeit für sie niederzukämpfen und war doch stets daran gescheitert. Dieser Kampf hatte ihn zermürbt. Jetzt fühlte er sich plötzlich frei! Er blickte auf die Fremde und konnte sie ohne schlechtes Gewissen betrachten. Die Zeit dies vor sich zu verbergen war vorbei.
Joshua wusste, dass sie ein Geist war. Nicht immer konnte er das sofort sagen. In diesem Fall war es unumstößlich. Sie trug ein Kleid, wie aus Schnee, das ihn an ein Brautkleid erinnerte. Es war von viktorianischem Stil. Trotzdem wirkte es nicht aufgesetzt, sondern schlicht und elegant. Ihr dunkles Haar war aufgesteckt und sie schaute in die Ferne.
Was mochte sie sehen?
Als Joshua nähertrat, verblasste sie. Erst jetzt bemerkte er sein rasches Herzklopfen. Es war ein gutes Gefühl, sich dieser Welt wieder zu nähern – aber es war auch mit einer gewissen Aufregung verbunden. Eine leise Furcht blieb immer.
Joshua las die Inschrift auf dem verwitterten Grabstein, auf dem die Fremde gesessen hatte.
So jung gestorben!, dachte er bestürzt.
Joshua ging aus der Abteiruine und wandte sich dem Friedhof zu. Eine Seite wurde von einem alten Eibenbaum beherrscht, der seine Zweige über einigen Gräbern ausstreckte, als wolle er sie für sich beanspruchen. 
Joshua erinnerte sich daran, dass in seinem Reiseführer die Bedeutung von Aghadoe stand: The place of the two yew trees – Der Platz der zwei Eiben.
Sachte strich er über den Stamm des Baumes. Wie alt mochte er sein? Und wo war die zweite Eibe? 
Er sah sich weiter um. Keltische Hochkreuze standen wie Denkmäler zwischen neueren Steinen. Andere waren umgefallen und mit Moos überwuchert. Joshua las im Vorbeigehen die Jahreszahlen. Diese Ruhestätte beherbergte die Toten eines anderen Jahrhunderts.
Joshua wich erschrocken zurück, als die Frau mit dem weißen Kleid unmittelbar vor ihm erschien.
„Du lieber Himmel, hast du mich erschreckt“, flüsterte er ihr zu.
Sie wandte langsam ihren Blick in seine Richtung, registrierte, dass er sie sehen konnte. Verwundert krauste sie die Stirn.
Leichter Regen fiel wie feuchter Staub vom Himmel, das Licht wurde blasser und Emilys Geist wurde für ihn immer präsenter. 
Es war doch Emily Rogers?
Sie schien seine unausgesprochene Frage zu hören, denn sie nickte zaghaft.
„Was ist dir nur zugestoßen?“
Emily sprach nicht, aber sie erinnerte sich – und Joshua wurde in den Sog dieser Erinnerungen hineingezogen.

Sie stand auf dem Hügel von Aghadoe und wartete schon seit Stunden auf ihn. 
„Emily bitte, komm ins Haus! Du holst dir hier draußen den Tod! Es ist kalt.“
Emily schüttelte den Kopf. „Ich muss auf ihn warten, Mutter. – Er hat es versprochen.“
Elisabeth Rogers trat zu ihr, legte ihre Hand beinah vorsichtig auf die Schulter ihrer unnachgiebigen Tochter. „Liebes … er hat dir so viel versprochen und es nie gehalten.“
„Ich habe das Kleid schon anprobiert, er wird kommen!“
Ihre Mutter seufzte, überließ Emily ihrer Sturheit und lief den Hang zu ihrem Gehöft hinunter.
Padraig musste kommen! Morgen war doch der Tag ihrer Hochzeit! In ihr reifte ein kleines Wesen heran, das konnte er nicht ignorieren!
Der Tag verging, die Sonne sank. 
Er kam nicht.
Der Morgen graute, Wind rauschte in den Zweigen der Eibe. 
Er kam nicht. 
Der Nachmittag nahte, die Zeit der Hochzeit war verstrichen. 
Er kam nicht.
Und Emily weinte. Sie hatte ihn gesehen! Mit Helena McKinley, einer Adligen.
Nichts drang mehr zu ihr durch. Die Worte ihrer Mutter berührten sie nicht, die Gesten ihrer Schwester beachtete sie nicht. Nur Helenas Lachen hallte in ihrem Innern und sie hätte die junge Frau am liebsten vergiftet.
Gift …
Emily stand abermals am Aghadoe Hill und betrachtete die Ruinen der Abtei. Sie hatte ihr Hochzeitskleid angelegt. Langsam näherte sie sich dem Eibenbaum, der auf dem Friedhof thronte. Er trug bereits seine roten Früchte. Emily wusste, dass die Samen darin töten konnten. Sie pflückte sie mit unnatürlicher Ruhe – und führte sie zum Mund.

Joshua fühlte sich schwindlig, taumelte und ließ sich auf den Boden gleiten. Emily stand vor ihm, die Hand auf ihren Bauch gelegt. Er starrte sie an. Einige Äste der Eibe ragten hinter ihr auf. Ein Hochkreuz ruhte wie ein Mahnmal neben ihr. Keltische Zeichen waren in den Stein graviert. Ihre Gestalt beleuchtete sanft die Ruinen der Abtei.
„Warum bist du noch hier, Emily?“, wisperte er.
„Ich muss auf ihn warten … er wird kommen.“ 
Sie wandte sich ab, ging zum Aussichtspunkt, wo man den See Loch Léin wie einen Spiegel zwischen den Bergen liegen sah, nur durchbrochen von kleinen Inseln, die wie Schatten im Zwielicht verborgen waren. Der Saum ihres Brautkleides wurde von einer Brise emporgehoben, die Joshua nicht spürte. 
Dann verschwand sie und Joshua blieb allein zurück.
„Du solltest nach Hause gehen, Emily.“ Er senkte den Kopf und dämpfte die Stimme. „Weine ihm nicht eine Träne nach.“
Er dachte an Susanne. Auch sie hatte keine Tränen verdient. Nicht eine.
Joshua sog tief die saubere Luft Irlands ein. Bedächtig lief er zurück zu seinem Apartment. Mit jedem Schritt trat er in ein neues Leben.


Text: © Tanja Bern
Bild: © Crossvalley Smith

Prologstory zu dem Roman Ruf der Geister